5. September 2010, NZZ am Sonntag

 

Ein Kenner der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) sagt, der Begründer dieser Therapie in Europa sei ein Scharlatan gewesen und viele bis heute gültige Lehren frei erfunden.

Von Irène Dietschi

Die hochangesehene Akupunktur steckt in einem Tief: Anfang Juni wurde publik, dass ein Berner Akupunkteur 18 Personen vorsätzlich mit dem Aids-Virus infiziert haben soll. Ein Skandal – aber ein Einzelfall, relativierte die Schweizerische Berufsorganisation für Traditionelle Chinesische Medizin (SBO-TCM), der über 1300 Therapeuten angeschlossen sind.

Kaum hat sich der Wirbel um den selbsternannten Heiler gelegt, bricht neues Ungemach über die Anhänger der fernöstlichen Heilkunst herein, diesmal aus Deutschland. Unter dem Titel «West-östlicher Scharlatan» publiziert die renommierte «Süddeutsche Zeitung» am 13. August einen Artikel, der an den Grundfesten der Akupunktur rüttelt: Die in Europa geltenden Lehren von der Behandlung mit der Nadel seien verfälscht oder gar frei erfunden. «Kritiklos glaubte die gesamte westliche Welt den Schriften eines Scharlatans, nach dessen Phantastereien noch heute behandelt wird», schreibt Hanjo Lehmann, Arzt und TCM-Experte, in der «Süddeutschen». Eine Langfassung des Beitrags erschien vorher im «Deutschen Ärzteblatt».

Die Rede ist vom Franzosen George Soulié de Morant (1878–1955), der als junger Mann im diplomatischen Dienst 10 Jahre in China verbracht hatte. Zurück in seiner Heimat, legte er Ende der 1920er Jahre die ersten brauchbaren Übersetzungen der klassischen Werke zur chinesischen Medizin vor. Dadurch begann sich die Akupunktur in Europa erstmals zu etablieren, nachdem sie vorher nur vereinzelt praktiziert worden war. «George Soulié de Morant gilt als Vater der westlichen Akupunktur», schreibt Lehmann, aber: «Alle Indizien deuten darauf hin, dass er in China nie eine Nadel gestochen, vermutlich sogar nie eine Nadelung gesehen hat.» Souliés Akupunktur, so der TCM-Experte, war ein «Phantasieprodukt, basierend auf Büchern, die er sich nach 1929 verschaffte.»

Als Beispiele nennt Lehmann unter anderem die beiden Schlüsselbegriffe «Meridian» und «Energie». In der TCM seien die «Jinglou» ein reales Gefässsystem, durch das Blut und die Feinmaterie Qi fliessen. Die Vorstellung von körperlosen Meridian-Bahnen, durch die eine immaterielle Lebensenergie – das «Qi» – fliesst, habe jedoch Soulié de Morant geprägt.

Kritik ist indes in der TCM-Szene nicht gefragt. Die deutschen Akupunktur-Ärzte reagierten auf Lehmanns Publikationen mit blanker Wut. Lehmann selbst sei der Scharlatan, schreiben ihre Vorsitzenden in einer Erklärung, die Vorwürfe seien «krass und unsortiert», die Aussagen «schlicht falsch». Dabei lassen sie durchblicken, dass «Herr Lehmann» als ehemaliger Heilpraktiker von der Materie nicht die geringste Ahnung haben könne.

Dieser Einschätzung schliesst man sich hierzulande an. TCM-Ärztin Brigitte Ausfeld, die auch an der Kikom (Kollegiale Instanz für Komplementärmedizin) der Universität Bern lehrt: «Herr Lehmann fügt Halbwissen, Schlagworte und Irrtümer zu einer faszinierenden Geschichte zusammen, die ich – wie einen Roman von Dan Brown – mit wachsendem Vergnügen gelesen habe, vom fachlichen Standpunkt aus aber in keiner Weise ernst nehmen kann.» Soulié de Morant als «Vater der westlichen Akupunktur» zu bezeichnen, sei ähnlich, wie wenn man behaupten würde, die Bibel sei von einem einzigen Mann geschrieben worden. Etwas ungehaltener als seine Kollegin reagiert der TCM-Arzt Jörg Fritschi aus Pfeffingen: Man dürfe die traditionellen chinesischen Konzepte durchaus diskutieren, schreibt Fritschi per Mail, doch «wenn dies geschieht, dann auf wissenschaftlich solidem Niveau».

Tatsächlich belegen inzwischen Hunderte von klinischen Untersuchungen, dass Akupunktur hilft. In den vielzitierten deutschen «Gerac»-Studien (German Acupuncture Trials) zum Beispiel, in deren Verlauf 30 Millionen Nadeln in rund 600 000 Patienten gestochen wurden, erwies sich das Verfahren bei Rücken- und Knieschmerzen als wirkungsvoll (nicht aber bei Kopfschmerzen). Hier war die Akupunktur der westlichen Standardtherapie deutlich überlegen. Etwas irritierend war allerdings ein zweites Ergebnis, das die Gerac-Studien hervorbrachten. In vielen Fällen spielte es nämlich keine Rolle, ob die Nadeln nach den Regeln der TCM oder an irgendwelchen Phantasiepunkten gesetzt wurden. Die schmerzlindernde Wirkung war praktisch die gleiche. Der Frage, die damit aufgeworfen wird, stellen sich TCM-Anhänger nicht gerne: Welchen Wert haben die angeblich jahrtausendealten Regeln der chinesischen Medizin, wenn es offenbar nicht so darauf ankommt, wohin man sticht?

Es sind Fragen wie diese, die auch Hanjo Lehmann interessieren. Der Deutsche, der lange Jahre mit seiner chinesischen Ex-Frau eine TCM-Praxis betrieb, bevor er mit 44 Jahren ein Medizinstudium begann, bestreitet grundsätzlich nicht die Wirksamkeit der Akupunktur. Er erklärt sie mit der Mikroverletzung, die durch die Nadelung erzeugt wird, was einen Heilungsprozess in Gang setze. Aber mit seiner Enthüllungsgeschichte über Soulié de Morant kratzt er am Mythos des traditionellen Theoriegebäudes und wagt es, dessen Grundlagen zu hinterfragen. Das hat Konsequenzen: Vieles, woran TCM-Praktizierende unbeirrt festklammern, ist nach Lehmanns Auffassung dem Aberglauben näher als rationaler Medizin.

Mythos und Kunstprodukt

Kürzlich hat schon der Sinologe und Medizinhistoriker Paul Unschuld die angebliche «traditionelle» chinesische Medizin als Mythos bezeichnet. Was heute als TCM praktiziert werde, sei ein Kunstprodukt, entstanden nach 1950 unter der Mao-Regierung. Hanjo Lehmann geht nun einen Schritt weiter und sagt: Chinas Medizin hat sich nie von all den Spekulationen und Irrtümern befreit, von denen es in den jahrtausendealten Büchern wimmelte. Bis heute, so Lehmann, werden die zum Teil wirren Ideen mitgeschleppt, wodurch die TCM zu einem konfusen System aufgebläht worden sei.

Ein Beispiel: die Lehre der «Fünf Wandlungsphasen», auch Fünf-Elemente-Lehre genannt. Dieses Konzept ordnet die Elemente Wasser, Metall, Erde, Feuer und Holz den menschlichen Organen zu und umgekehrt. Sie entsprechen aber auch den Jahreszeiten, dem Werden, Wandeln und Vergehen, ja eigentlich allen Beziehungen des Menschen zwischen Erde und Himmel, und dies alles immer im Kreis – schwierig zu verstehen für ein analytisch denkendes Gehirn. Lehmann fragt: «Wer hat sich das ausgedacht? Würde irgendjemand diese Zuordnungen wiederfinden, falls sie mit den Urtexten verloren gegangen wären?» Der Deutsche, der fliessend Chinesisch spricht, hält diese Ideen für «Spekulationen reinsten Wassers», klinisch nutzlos, wenn nicht schädlich.

Ganz anders sehen dies TCM-Praktizierende: Für sie sind die alten Grundlagen philosophisch zentrale Bestandteile ihres Tuns, und sie halten sie in Ehren. «Akupunktur ohne die fünf Wandlungsphasen oder das Leitbahnensystem ist schlicht nicht denkbar», sagt Simon Becker, langjähriger Präsident der SBO-TCM. Auch für den TCM-Arzt Beat Hornstein aus Basel haben diese Konzepte eine grosse Bedeutung: «Sie fliessen ein in die Diagnostik, Therapie und Beratung. Und sie berühren wichtige Bereiche wie die Krankheitsprophylaxe, die Ernährung, Kleidung oder das Verhalten von Patienten.» Kikom-Dozentin Brigitte Ausfeld verweist darauf, dass in China seit alters ein anderes Menschenbild vorherrsche, was sich im Verständnis von Krankheiten widerspiegle: nicht kausal-analytisch wie im Westen, sondern intuitiv-synthetisch.

Ballast abwerfen

Auch dies hält Hanjo Lehmann für falsch. «So etwas kann nur behaupten, wer nie mit Chinesen zusammengelebt hat und die Sprache nicht beherrscht», sagt er. Statt die Akupunktur weiter aufzublasen, schlägt Lehmann vor, sie zu entschlacken; auf Bewährtes wie die wichtigsten Wirkungspunkte könne man weiterhin ein Schwergewicht legen, alten Ballast wie die Fünf-Elemente-Lehre aber solle man über Bord werfen. «Aus einer exotischen, vom Glauben genährten Heilkunst würde dann ein schlichtes, rationales Verfahren, das man ohne weiteres in das normale schulmedizinische Curriculum einbinden könnte», sagt Lehmann. Das wäre zwar für viele TCM-Anhänger etwas ernüchternd, meint der «Häretiker», aber sehr viel zeitgemässer.